ICH LIEBE DICH ZU STERBEN | Kurzprosa | Semi j. Kolon
Du sollst sterben.
Ich schaue dich an. Versuche den Gedanken zu verdrängen. Doch er weicht nicht vom Fleck. Er bleibt standhaft. Meine Versuche, ihn in eine Schublade zu schieben und diese zu verschließen, misslingen. Du sollst sterben. Der Gedanke vibriert nur noch deutlicher, je mehr ich versuche ihn zu zerstreuen. Ich schaue dich weiter an. Wie du irgendetwas machst. Ich weiß nicht einmal, was du da tust. Worin du da kramst, wonach du suchst. Du sollst sterben. Mein Blick ruht hasserfüllt auf dir. Du scheinst nichts zu merken. Du gehst deiner Kramerei weiter nach. Wie naiv du doch bist. Einer trachtet dir nach dem Leben und du hockst auf dem Boden und kramst. Wie eines dieser Häschen in einer TV-Dokumentation wühlst du vor dich hin, nicht ahnend, dass dich gleich ein Raubtier zerreißen wird. Du sollst sterben. Nicht wie das Häschen. Mit dem teilst du nur die Naivität des Seins und Tuns. Ich bin kein Raubtier. Ich mag kein Blut. Ich stehe an den Türrahmen deines Zimmers gelehnt und schaue dich an. Ich bin kein blutrünstiges Wesen, keine brutale Gestalt. Ich versuche mein Gewissen zu fragen. Klopfe an dessen Tür. Doch es reagiert nicht. Was hat mein Verstand damit getan? Wohin hat er es gesperrt, entführt? Wenigstens lässt er mich noch reflektieren. Ich kann den Gedanken, der alles andere unterdrückt, analysieren. Ich kann ihn hinterfragen. Doch es scheint nichts zu nutzen. Er pulsiert nur noch stärker. Oder ist es das Gewissen, das mich zum Denken zwingt? Das Gewissen sollte aber förmlich schreien: „Nein! Du darfst nicht töten! Nie!“ Es sollte mich mit der Wucht einer Welle treffen, diese mordlustigen Gedanken wegspülen, mich wie ein kalter Wasserstrahl aus meinen letalen Fantasien wecken. Du sollst sterben. Das Gewissen schweigt. Ein stummer Zeuge deines baldigen Ablebens. Das Einzige, was in meinem Kopf passiert, ist eine objektive Analyse. Wie ein Mediziner untersuche ich die Symptome. Ich versuche eine Diagnose zu stellen. Warum sollst du sterben, frage ich mich. Und wie. Nein, das Gewissen ist verschwunden. Der Verstand, dieser Analytiker, bestimmt nun mein Denken. Es hat schon immer diese Seite in mir gesteckt. Das, was wir Menschen als das Böse bezeichnen. Hat es jetzt doch von mir Besitz ergriffen? Du sollst sterben. Doch was mache ich mit dir? Ich will dich nicht bluten sehen. Obwohl ich mir vorstelle, dass du wie Schneewittchen auf deinem Bett liegen würdest, dein blasses Gesicht mit einem feinen Muster aus roten Tröpfchen besprenkelt. Ich finde Gefallen an diesem Bild. Doch Schneewittchen wäre fast an einem vergifteten Apfel gestorben. Blut war nicht im Spiel. Obwohl es im Märchen heißt: Lippen, rot wie Blut. Diese Worte habe ich immer gemocht: rot wie Blut. Die böse Königin hätte das Schneewittchen aber fast auf sehr unblutige Weise aus dem Weg geschafft - nachdem der blutige Plan mit dem Jäger gescheitert war. Es war perfide. Eine Vergiftung. Hinterrücks. Du sollst sterben. Nicht perfide. Nicht hinterrücks. Dafür liebe ich doch zu sehr. Du sollst sterben. Auf eine poetische Weise. Kein Gemetzel. Das ist meine Entscheidung. Ich möchte ein Schauspiel. Ich will eine langanhaltende Genugtuung. Ich will mich an deinem Sterben ergötzen. Ich will sehen, wie du das Leben langsam aushauchst. Wie deine Beine nachgeben, wegknicken und dein Körper zu Boden sinkt und sich dort zu seiner ewigen Ruhe bettet. Du schaust mir vor deinem letzten Atemzug noch einmal fragend in die Augen, verstehst nicht, was vorgeht. Erhoffst dir von mir Antworten. Doch meine Augen bleiben regungslos. Sie visualisieren bereits das bevorstehende Schauspiel. In mir macht sich Genugtuung breit. Ich werde dich in die Knie zwingen. Lass dir das eine Lektion sein für dein Aufbegehren. Niemand kommt ungestraft davon. Du sollst sterben. Die Art und Weise, wie ich dich um dein Leben bringe, wird eine letzte Liebeserklärung an dich sein. Ich will dich nicht meuchelmorden. Das hast du nicht verdient. Doch ich kann dich auch nicht mehr leben sehen. Ich möchte das letzte Wort über dein Schicksal sprechen. Ich will das Ende unser gemeinsamen Geschichte schreiben. Die Deutungshoheit über unsere Liebe wird bei mir liegen. Du sollst sterben.
Wenn du nur wüsstest, was gerade in mir vorgeht. Doch du kramst weiter. Und auf einmal niest du. Du niest, dass dein ganzer Körper erbebt. Du greifst nach einem Taschentuch und drückst es dir gegen die Nase. Dann schaust du hoch, in Erwartung, dass ich dir Gesundheit wünsche. Doch du sollst sterben. Ich schaue dich emotionslos an. Du sagst, dass es dieses Jahr mehr Pollen gebe. Ich nicke, während sich im Inneren meines Kopfes ein wildes Gedankenkonstrukt bildet. Ein Bild deines Sterbens. Du sollst sterben. Und ich weiß nun wie. In der Vergangenheit schenkte ich dir Blumen als Beweis meiner Liebe. Jetzt werde ich dir Blumen schenken, um dich zu töten. Ich stelle mir vor, wie ich dich in ein Meer von Blüten werfe. Der Aufprall deines Körpers lässt die Pollen zwischen den Blütenblättern hervorquellen und sich in der Luft verbreiten. Meine Augen glühen. Ich fühle, wie sich meine Sehnen spannen. Mein Plan ist zum Weinen schön. Doch ist ein Meer Blumen genug? Wird es dir den Atem rauben? Du sollst sterben. Mein Verdikt ist unumstößlich. Blumen werden nicht reichen. Ich werde Hilfe brauchen. Ich rufe die Bienen herbei, weise sie an, Pollen zu sammeln. Ich singe ihnen ein Lied. Einen Todesreigen. Sie kommen herbei, hören meinen Willen, ahnen nicht, was ich mit ihrer Hilfe plane. Ich summe dein Todesurteil. Schwirrt los, meine fleißigen Helferinnen! Holt so viele Pollen herbei, wie nur möglich. Und auch ihr werdet euch an dieser Poesie ergötzen können. Und schon fliegen sie nach allen Seiten. Und siehe, die ersten kehren zurück. Sie fliegen tief, denn sie tragen schwer. Kommt, meine Bienchen, tragt sie herbei. Legt sie ab vor diese Tür. Summt leise, summt leise, niemand soll etwas merken. Du sollst sterben. Leise, leise. Schön, schön. Um mich herum wachsen die Berge aus Pollen. Ich fahre meine Finger durch die samtene Masse. Ich schließe meine Handballen, fühle, wie sich der Tod zu einem weichen Polster formt. Ich schließe die Tür zu deinem Zimmer. Du sollst noch nichts merken. Genug, meine Bienen, genug. Jetzt fängt mein Werk an. Ich laufe durch die Zimmer, reiße die Fenster auf. Der Wind ist mein Helfer. Und bleibt schweigsamer Zeuge. Der perfekte Komplize. Ich spüre den lauwarmen Luftstrom einer Frühlingsbrise auf meinem Gesicht. Sie schmeckt nach den ersten warmen Sonnenstrahlen, doch im Abgang spürt man die frostigen Spuren des Winters. Frühling bringt Frische. Frühling heißt Neuanfang. Frühling heißt heute: Du sollst sterben. Frühling heißt heute: Ich bin dich los. Der Frühling bringt nur mir den Neuanfang. Obwohl ich nicht weiß, wie dieser aussehen soll. Ich weiß nur: Du sollst sterben.
Die Brise bahnt sich ihren Weg durch die Zimmer und Korridore. Sie durchstößt die Berge von Pollen, reißt sie in die Luft. Ein Pollensturm erhebt sich. So stelle ich mir einen Gott vor. Herrscher über die Gewalten. Ich bitte den Wind, mir einen Korridor zu schaffen. Denn ich bin jetzt der Herrscher über die Gewalten. Über Leben und Tod. Der Wind gehorcht. Im Pollennebel öffnet sich eine Schneise. Sie führt direkt zu deiner Tür. Ich schreite feierlich wie zu einem Altar. Du sollst sterben. Soll ich dir einen letzten Wunsch gewähren? Du sollst sterben. Ich lege die Hand auf die Klinke. Ein kurzer Moment des Zögerns. Gewissen, bist du es? Vielleicht. Zu spät. Du sollst sterben. Nichts hält mich mehr auf. Mein Körper bebt. Vor Lust. Vor Wut. Vor Liebe. Vor Vorfreude. Vor Erwartung eines großen Finales. Vor Erwartung eines ungewissen Neuanfangs. Der Pollensturm bäumt sich hinter meinem Rücken auf. Er ist bereit, in dein Zimmer zu bersten. Er wartet nur noch auf mein Kommando. Ich lege die Hand auf die Klinke. Zweifel sind jetzt nicht angebracht. Gewissen, du hast geschwiegen. Nun schweig für immer. Ich drücke die Klinke herunter, schließe kurz die Augen, bevor ich die Tür aufstoße. Ich sehe dich nur kurz erschrocken hochschauen. Wie ein verängstigtes Häschen. Dann kippe ich nach vorn, umgestoßen von der Wucht des Pollensturms, der wie ein Bataillon über mich hinweg donnert. Als ich hochschaue, sehe ich dich husten. Du versuchst Mund und Nase zu verschließen. Doch es nützt dir nichts. Selbst die kurzen Atemzüge, die dein Überleben sichern sollen, füllen deine Lungen mit dem goldgelben Tod. Du röchelst. Aus deinen Augen quillen Tränen. Sie sind angsterfüllt. Wo bleibt die Poesie? Und ich weiß, du wirst sterben. Und ich merke, ich will das nicht. Ich liebe es, wenn du weinst. Ich liebe es, dich zu beschützen. Und ich ertrage nicht, wenn du meine Schwächen benennst. Ich liebe deine unschuldige Art. Und ich hasse meine Abhängigkeit. Und ich hasse deine Unabhängigkeit. Es gibt keinen Grund für dich zu sterben. Dein Tod wäre Zeugnis meiner Schwäche. Dein Sein ist mein Spiegel. Ich kann das Abbild meiner selbst darin nicht immer leiden. Doch ich will nicht die böse Königin sein. Den Spiegel zerstören, um die Wahrheit nicht sehen zu müssen. Ich rappele mich auf. Stürze nach vorn und werfe mich auf dich. Schirme dich ab vor meinen eigenen Waffen. Ich schreie.
Ich schaue dich an. Du kramst immer noch am Boden. Du fragst: „Wieso schreist du?“ Ich sage: „Du sollst nicht sterben.“ Du schaust mich verdutzt an. Du sagst: „Ich werde nicht sterben.“ Ich sage: „Ich hasse dich.“ Du fragst: „Und deshalb schreist du?“ Ich sage: „Ich liebe dich.“ Du antwortest: „Ich verstehe.“ Und widmest dich weiter deiner Kramerei. Ich wende mich ab, schlüpfe in meine Schuhe, öffne die Haustür. Du rufst: „Wohin gehst du?“. Ich würde dir gern Blumen kaufen.
